2.4.4 Die Postulate der irreversiblen Thermodynamik



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2.4.4 Die Postulate der irreversiblen Thermodynamik

Das zentrale Problem der irreversiblen Thermodynamik ist die Erstellung der Entropiebilanzgleichung. Zu diesem Zweck müssen mechanische und elektrodynamische Größen mit Hilfe der lokalen Formulierung der Gibbs Fundamentalform (2.159) mit thermodynamischen Größen in Beziehung gebracht werden. Drei Postulate der irreversiblen Thermodynamik erlauben, in der Entropiequelle konjugierte treibende thermodynamische Kräfte und korrespondierende Flüsse zu identifizieren und Stromrelationen mit physikalisch signifikanten makroskopischen Transportparametern herzuleiten.

Der irreversiblen Thermodynamik liegt die Idee zugrunde, daß die Entropie als Quantität aufgefaßt werden kann, die in der Materie strömt bzw. produziert wird. Die lokale Entropieproduktion entpuppt sich als Schlüsselbegriff zum systematischen Entwickeln der phänomenologischen Gleichungen eines thermodynamischen Systems. Alle bekannten phänomenologischen Ausdrücke von Stromdichten, die einer einzelnen, treibenden Kraft proportional sind (z.B. Wärmeleitung (Fourier), Stromleitung (Ohm), Diffusion (Fick), innere Reibung (Newton)), lassen sich als Beziehungen zwischen einzelnen Faktoren einer algebraischen Darstellung der Entropieproduktion deuten.

Die Entropiebilanzgleichung hat nach Gl. (2.165) folgende allgemeine Form:

 

Die Bilanzgleichung für die Entropie Gl. (2.169) drückt die Tatsache aus, daß die Entropie eines Volumenelements sich mit der Zeit aus zwei Gründen ändern kann. Einerseits fließt Entropie in das Volumenelement hinein, andererseits kann es innerhalb des Volumenelements eine Entropiequelle geben, die von irreversiblen Phänomenen herrührt. Entsprechend der lokalen Formulierung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik muß die lokale Entropiequelle immer eine nichtnegative Größe sein, da Entropie nur erzeugt, niemals vernichtet werden kann. Das Ziel der Thermodynamik der irreversiblen Prozesse ist, die Entropiequelle explizit mit den verschiedenen irreversiblen Prozessen, die im Inneren eines Systems auftreten, in Beziehung zu setzen.

Ein irreversibler Prozeß ist stets mit einem Anwachsen der Entropie verbunden. In neuerer Zeit wird die Tendenz der Entropie zum Anwachsen als Ursache für irreversible Prozesse angesehen, als eine Kraft, die den Vorgang antreibt [26]. Der Vorgang läuft umso schneller ab, je größer der mit ihm verbundene Entropiezuwachs ist.

Um die Entropiequelle in Gl. (2.169) explizit zu bestimmen, wird zunächst mit Hilfe der lokalen Gibbs Fundamentalform (2.159) die zeitliche Änderung der Entropiedichte ausgedrückt [35]:

 

Die Wahl der Gibbsfunktion ( oder ) bedingt verschiedene Definitionen intensiver Zustandsparameter ( oder ). Gl. (2.170) zeigt, daß sie sich lediglich durch den Faktor unterscheiden (Zur Definition der wird die Gibbsfunktion verwendet). Die Entropiebilanzgleichung der Form (2.169) ergibt sich, wenn in Gl. (2.170) für die auf das Einheitsvolumen bezogenen extensiven Variablen Erhaltungssätze (analog zu Gl. (2.165) mit ) eingesetzt werden. Die Entropieflußdichte nimmt folgende Gestalt an:

 

Die Entropiequelle, die der lokalen Energiedissipation entspricht, hat die Struktur einer Bilinearform. Sie stellt sich als Produktsumme thermodynamischer Flüsse und korrespondierender thermodynamischer treibender Kräfte dar:

 

Gl. (2.172) wird als erstes Postulat der irreversiblen Thermodynamik bezeichnet. Jede Flußgröße ist charakteristisch für einen im betrachteten System ablaufenden, irreversiblen Austauschprozeß. Die thermodynamischen Kräfte gelten als eigentliche Ursache der Entropieproduktion. Sie stehen mit der Abweichung einer inneren, intensiven Zustandsvariablen von ihrem Gleichgewichtswert in Zusammenhang und sind als Gradienten derselben darstellbar [35]. Die Rate der lokalen Entropieproduktion kann auch äußere Kräfte als treibende thermodynamische Kräfte enthalten. Wenn für die lokalen, extensiven Variablen keine Erhaltungssätze, sondern allgemeine Bilanzgleichungen der Form (2.165) gelten, enthält auch Differenzen thermodynamischer Zustandsvariablen (chemische Affinitäten) als treibende, thermodynamische Kräfte. Allgemein werden Größen, die in mit den Flüssen multipliziert werden und Tensoren verschiedender Stufe darstellen können, 'Affinitäten' genannt [86].

In einem Markoffschen System hängt ein lokaler Fluß zu einem bestimmten Zeitpunkt nur vom Augenblickswert der lokalen, treibenden Kräfte (Affinitäten) und der lokalen, intensiven Variablen in demselben Zeitpunkt ab [35]:

Jeder thermodynamische Fluß ist eine Funktion aller thermodynamischen treibenden Kräfte. Zwar dominiert seine Abhängigkeit von der ihm assoziierten Affinität. Doch die prinzipielle Abhängigkeit jedes Flusses von den den anderen thermodynamischen Flüssen assoziierten Affinitäten erlaubt die Berücksichtigung von Kreuzeffekten in der irreversiblen Thermodynamik.

Ein Fluß verschwindet nur, wenn alle treibenden Kräfte verschwinden. Dann herrscht thermodynamisches Gleichgewicht und der Ausdruck der lokalen Entropieerzeugung wird null. Weil die Wirkung (Fluß) mit der Ursache (Kraft) verschwinden muß, darf in der Entwicklung eines Flusses nach den Affinitäten kein konstanter Anteil vorkommen:

 

Wenn die treibenden Kräfte 'klein' sind, können Glieder quadratischer und höherer Ordnung in Gl. (2.174) vernachlässigt werden. Dann gilt:

 

Die Beziehung (2.175) wird als zweites Postulat der irreversiblen Thermodynamik bezeichnet. Gl. (2.175) ist Onsager's Definition der sogenannten konstitutiven, linearen, kinetischen (oder phänomenologischen) Gleichungen. Sie beschreiben die im System stattfindenden Austauschvorgänge. Die Proportionalitätsfaktoren zwischen den thermodynamischen Flüssen und Kräften heißen kinetische (oder phänomenologische) Koeffizienten.

Die kinetischen Koeffizienten sind Funktionen der lokalen, intensiven Variablen [35]:

Das dritte Postulat der irreversiblen Thermodynamik wird auch Onsagertheorem genannt. Es stellt folgende fundamentale Eigenschaft der kinetischen Koeffizienten fest [26], [35], [82], [86], [90], [106]:

 

Das Onsagertheorem (2.177) behauptet eine Symmetrie der linearen Effekte der treibenden Kraft auf den Fluß und der treibenden Kraft auf den Fluß .

Es gibt Austauschprozesse verschiedenen tensoriellen Charakters, z.B. sind chemische Prozesse skalare Prozesse, während Teilchenflüsse vektorielle Prozesse darstellen. Nach dem Prinzip von Curie-Prigogine sind in isotropen, thermodynamischen Systemen die kinetischen Kopplungskoeffizienten zwischen Flüssen und Kräften verschiedenen tensoriellen Ranges null [82], [86], [90], [91].

Es ist empirisch erwiesen, daß für eine große Klasse irreversibler Phänomene und in weiten Bereichen experimenteller Bedingungen irreversible Flüsse tatsächlich lineare Funktionen thermodynamischer Kräfte sind. Diese Tatsache kommt in den phänomenologischen Gesetzen zum Ausdruck, die in verschiedenen Disziplinen 'ad hoc' eingeführt wurden (z.B. Fick, Fourier, Ohm) und auch Überlagerungseffekte einschließen [86]. Aufgrund der experimentellen Befunde muß man davon ausgehen, daß die bei technischen Anwendungen üblicherweise auftretenden Gradienten der Temperatur, des Potentials und der Konzentrationen klein im Sinn der Gleichung (2.174) sind [35]. Eine grundsätzliche Betrachtung der Grenzen der linearen Theorie wird durch die Enskog-Methode der Reihenlösung der Boltzmanngleichung ermöglicht. Es zeigt sich, daß die makroskopischen Ergebnisse der irreversiblen Thermodynamik nur zutreffen, wenn die erste Enskogsche Näherung für eine adäquate Beschreibung der in dem System auftretenden Transportphänomene ausreicht, d.h. so lange, wie lineare phänomenologische Gesetze zutreffen. Ein wichtiges theoretisches Ergebnis ist, daß die Verwendung der Gibbs Fundamentalform und damit die Hypothese des lokalen Gleichgewichts bei Abweichungen vom Gleichgewicht gerechtfertigt ist, für die Transportphänomene durch lineare, phänomenologische Gesetze beschrieben werden können [86]. Werden nichtlineare Glieder der Enskog Näherung berücksichtigt, wird die Entropiedichte eine Funktion von Gradienten makroskopischer Größen.

Die Bedingung kleiner Abweichungen vom thermischen Gleichgewicht hängt mit der Bedingung der Existenz des lokalen Gleichgewichts eng zusammen (siehe Abschnitt über lokales Gleichgewicht). Jenseits der linearen, irreversiblen Thermodynamik werden aus transporttheoretischer Sicht drei Bereiche unterschieden. Zunächst ändern sich die Eigenschaften des Systems, z.B. die Transportparameter kontinuierlich mit der Zunahme der Abweichung vom Gleichgewicht. Weit weg vom Gleichgewicht treten Transportphänomene völlig anderer Qualität auf, z.B. Turbulenzen. Schließlich ist es möglich, daß kein lokales Gleichgewicht mehr existiert [82]. Generell wird die Hypothese des lokalen Gleichgewichts als unkritisch betrachtet [90]. Im Halbleiter können prinzipiell Phänomene aller drei Kategorien auftreten. Die Forderung der Unabhängigkeit der Transportparameter von den treibenden Kräften innerhalb der linearen Theorie stellt die schwerwiegenste Einschränkung bezüglich der Praxis der Bauelementesimulation dar (siehe Kapitel 3).

Die Symmetrierelation von Onsager kann als Erfahrungstatsache der reinen Thermodynamik aufgefaßt werden. Zudem kann sie auf der Basis physikalischer Symmetrieprinzipien mit Mitteln statistischer Verfahren gerechtfertigt werden [26],[35].

Irreversible Prozesse im linearen Bereich streben eindeutig definierten stationären Zuständen zu, die sich durch ein Minimum der Entropieproduktion auszeichnen, das mit dem äußeren auf das System wirkenden Zwang verträglich ist [86]. Das Prinzip minimaler Energiedissipation ist äquivalent mit der Onsager Theorie [90].



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Martin Stiftinger
Sat Jun 10 15:00:12 MET DST 1995